Mittwoch, 22. Oktober 2008

System of a down

Ich stehe in der Bank, um einen Travelers Cheque zu tauschen. Mir wird diese Dienstleistung jedoch verweigert, weil ich keinen Reisepass bei mir habe. Das ist richtig, ich habe derzeit keinen Pass. Der Grund: Die Immigration Behörde hat ihn, weil ich meine Visumsverlängerung beantragt habe. Dafür behält die Behörde den Pass zwei Wochen. Ohne Pass kein Geld, sagt die Dame am Bankschalter. Sie lächelt freundlich, beinah mitleidig. Und ohne Visum? Ohne Geld? Sista, was soll ich tun? Madame, ich habe doch eine Fotokopie meines Passes. Könne sie die nicht akzeptieren? Und sie kenne mich doch aus den letzten Wochen. Ich solle warten, eine Stunde vergeht, dann tauscht sie den Cheque.
Ein anderes Mal zuvor, stürzt das gesamte Computersystem der Bank ab, als ich gerade am Schalter stehe, nichts geht mehr. Sorry, sitsta! Sagt sie. Niemand kann etwas dafür. Vorerst kann ich kein Geld bekommen. Also setzte ich mich bei kühlem Wasser aus Plastikbechern zu den anderen Wartenden. Ghana! sagt ein älterer Herr zu mir und zieht die Schultern bis an die Ohren. Ghana? denke ich und meine Gedanken schweifen zu Momenten der vergangenen Monate:
Wir kaufen Schokoladeneis in einem Supermarkt. Draußen stellen wir fest: es muss schon mal angeschmolzen gewesen sein. Salmonellengefahr! Also weg damit!
Der Strom fält aus, Ampeln an riesigen Kreuzungen funktionieren plötzlich nicht mehr, keine Polizei ist da, um den Verkehr zu regeln (die steckt vielleicht im Stau), Chaos, 20 Minuten bewegt sich absolut rein gar nichts mehr.
Bevor Kingsley sein kleines Hotel wird eröffnen können, wenn er den Innenausbau fertig gestellt haben wird, erzählt er uns, wird er das Gebäude erneut von außen streichen müssen. Bevor die letzten Dinge fertig sind, beginnen die ersten schon wieder zu rosten und zu schimmeln.
Warum klappt in diesem Land so einiges nicht einfach? Was macht den Menschen das alltägliche Leben hier so mühsam?
An der Göttingen Uni habe ich brav gelernt: Soziales muss durch Soziales erklärt werden.
An der Uni in Legon wird zur Erklärung sozialer Phänomene ein weiterer Aspekt hinzugezogen: Das Klima und die damit verbundene tropische Vegetation.
Und auch im "Paradigma der afrikanischen Krise" der Hamburger Politikprofessoren Tetzlaff und Jakobeit ist einer unter drei mal drei Faktoren die Komponente "Klima und die geographische Bedingungen".
Ja, diese Hitze! Sie macht müde, sie zermürbt. Oh, wie ich teilweise litt und innerlich fluchte, wenn ich zwischen zwei Trotrohaltestellen zum Umsteigen laufen musste in der prallen Mittagssonne: Nach wenigen Schritten rann Schweiß an meinem Köper hinab, die Haut begann zu brennen, fünf Minuten dehnten sich! Nicht nur Menschen schwächeln gelegentlich bei der Hitze. Auch Maschinen kollabieren bei hoher Temperaturbelastung, Drähte, Schienen und Asphalt dehnen sich und werden porös. Dass hier Krankheiten wie Malaria so verbreitet sind, liegt am Klima. Viele kranke und geschwächte Menschen sind eine Herausforderung für soziale, kulturelle und ökonomische Systeme. Wer einmal flach liegt in den Tropen, braucht viel länger als in Europa um wieder fit zu werden (selbst erlebt: um nach einer Mandelentzündung, Schnupfen und Dehydrierung brauchte ich mehr als eine Woche, um wieder auf die Beine zu kommen). Nicht nur Menschen werden leicht Opfer von Krankheitserregern. Sehr schnell befallen Schimmelpilze Fassaden, Gegenstände rosten in der feuchten Hitze rasant.
Es ist also nicht ganz einfach hier etwas aufzubauen und es ist sehr mühsam und aufwendig es in Stand zu halten. Das schlägt sich sicherlich in irgendeiner Weise in der sozialen Phänomenologie nieder.
Und so ist es vielleicht ein bisschen so, dass Afrika erst kein Glück hatte mit seinem Klima (teilweise natürlich nur, denn die Wärme kann für den Nahrungsmittelanbau beispielsweise, wenn genügend Wasser verfügbar ist, auch Vorteile haben) und dann auch noch das Pech des weltpolitischen Systems dazukam und die Bedingungen des Einen nicht so recht zu den Anforderungen des Anderen passen wollen.
Aber AfrikanerInnen sind nicht nur Opfer!
Europa exportiert zwar seinen Schrott hierher, das Weltwirtschaftssystem lässt afrikanischen Ökonomien kaum eine reale Chance und internationale Akteure beeinflussen massiv die innländische Politik afrikanischer Staaten.
Aber niemand zwingt die Einzelperson in unsinnigen Massen Plastiktüten zu verwenden, Müll einfach auf die Strasse und an den Strand zu kippen, korrupt zu sein oder Hass zu schüren - zumindest nicht direkt. Warum korrupte oder gewalttätige Regime auch von europäischen und/oder der US-amerikanischen Regierung geduldet oder gar gestützt werden, ist ein anderes Thema.
Ich habe in den vergangenen Monaten gelernt, dass ich aufhören muss, die Menschen in diesem Teil der Welt nur als Opfer zu verstehen und darzustellen. Damit ließe ich ihre eigens produzierte Scheiße, ihre Selbstbestimmung und ihr Reflexionsvermögen außer Acht.
Man kann es gut finden oder verurteilen: Die Welt wartet nicht auf von der Hitze oder anderen widrigen Umständen und historischen Erblasten geplagte Gesellschaften - jedenfalls nicht so lange, wie wir alle zulassen, dass das System bleibt wie es ist.
Europa und Afrika, die ganze Welt und damit wir als Einzelpersonen sind miteinander verbunden. Jede Handlung hat sichtbare Konsequenzen - vielleicht nicht immer vor der eigenen Haustür, aber auf den Strassen anderer Regionen der Welt! Das ist Globalisierung!
Passen die Regionen der Welt nur als gegensätzliche Pole zusammen?
Nun, da ich mich nach drei Monaten in Ghana heute Abend in ein Flugzeug zurück nach Deutschland setzen werde, habe ich eine Menge Bilder in meinem Kopf gespeichert. Und jedes ist mit einer neuen Frage verbunden:
Ist es Zufall, dass eine ghanaische Ölfirma und eine US-amerikanische Hilfsorganisation im selben Gebäude sitzen?
Wieso findet eine Bekannte, die in Ghana zum Thema Elektroschrott recherchiert, auf einem Platz, wo Leute (auch Kinder) mit bloßen Händen Computer zerlegen, einen Rechner mit der Kennzeichnung der US-amerikanischen Behörde für Entwicklungshilfe?
Warum behauptet eine deutsche sog. Entwicklungshelferin, sie kenne "fast alle Leute in Accra", weil sie mit etwa 2/3 der deutschen Entwicklungshilfeszene essen war?
Wurden für die strahlend weißen Papiertaschentücher eines ghanaischen Herstellers etwa Tropenhölzer verwendet?
Muss gewinnen eigentlich immer besiegen heißen?

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